Was ist das Gewerkschaftliche in der Bildungsarbeit der DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin?

Franziska Frielinghaus, März 2014

Meine konkrete Arbeit in der DGB Jugendbildungsstätte in Flecken Zechlin verschafft mir eine Praxisperspektive auf gewerkschaftliche Jugendbildung. Diese möchte ich in einigen Zügen darstellen. Daran schließe ich eine Analyse meiner Aufgabenfelder an, in der es mir darum geht zu bestimmen, was an dieser Arbeit eigentlich das ist, was Gewerkschaft ausmacht.

Zugrunde liegen dieser Darstellung erstens ein Text, der meine bildungstheoretische Annäherung an meine Bildungsarbeit mit dem Schwerpunkt Arbeit, Berufsorientierung und Perspektiven nach der Schule und meinen Bezug zur Bildungsarbeit im Rahmen von Gewerkschaft vornimmt.1 Außerdem, zweitens, der Antrag des DGB Bezirksjugendausschusses Berlin-Brandenburg an die DGB Bundesjugendkonferenz zum Erhalt der DGB Bildungsstätte Flecken Zechlin.2

Teil I: Seminarpraxis in der DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin am Beispiel "Perspektiven nach der Schule - Kritische Berufsorientierung"

Die DGB Jugendbildungsstätte ist ein sehr lebendiges Haus. Diese Lebendigkeit bietet den Ansatzpunkt für meine alltägliche Arbeit. Daher beginne ich hier damit und versuche, diese Lebendigkeit einzufangen.

Montag - Begrüßung zum Seminar der Berufsorientierung und Perspektiven nach der Schule

[...]
"Wisst ihr, was Gewerkschaften sind?"
"Nein."
"Noch nie von gehört?"
"Mhm."
"Also die sind für die Beschäftigen und Auszubildenden und ihren Rechten da. Also - dass ihr zum Beispiel eine bestimme Höhe der Ausbildungsvergütung bekommt, oder soundso viele Tage Urlaub habt, wenn ihr mal in der Ausbildung seid."
"Mh."
"Naja - und von denen ist das Haus hier. Und Gewerkschaft bedeutet auch Solidarität. Deswegen gibt es hier die Regel, dass niemand auf Grund seiner*ihrer Klasse, Herkunft, seines*ihres Geschlechtes, seiner*ihrer sexuellen Neigungen beschimpft und beleidigt werden darf und alle solidarisch miteinander sind."
"___"
"Also wir kommen darauf noch mal zurück. Habt ihr erstmal Fragen?"
"___"
[...]

Dienstag - Seminarbeginn am Morgen

"Geht es euch gut? Habt ihr gut geschlafen? Habt ihr Fragen zu gestern?"
"Die andere Gruppe war total laut. ___ Ja - wir konnten die ganze Nacht nicht schlafen. ____ Und mein Bett ist total unbequem. ___ Machen wir heute Pausen? ____ Ich habe mal ne Frage: Was ist das - solidarisch?"
"Ah - wir reden hier die ganze Zeit und haben ganz vergessen euch zu fragen, ob ihr wisst, was das meint. Hat jemand eine Idee?"
"____"
"Also solidarisch bedeutet, dass wir uns mit Respekt behandeln, uns gegenseitig helfen, uns gegenseitig unterstützen. Und zwar egal, wie ein Mensch aussieht, woher er*sie kommt, welcher Religion er*sie angehört. Konkret hier im Haus heißt das, wenn mein Kollege hier nicht weiterkommt, ich ihm helfe und ihn unterstütze. Und wenn er Probleme mit seinen Arbeitsbedingungen hat, dass er zu seinem Recht kommt und er und wir zusammen nicht schlecht behandelt werden in unserer Arbeit. Genauso anders herum - er unterstützt mich auch. Wir sind solidarisch miteinander, auch wenn wir vielleicht nicht beste Freund*innen sind oder so. Oder wenn sie vorne an der Rezeption so viel Arbeit haben, dass gerade alles durcheinander geht - also wenn ihr Pause habt und alle gleichzeitig Billard, Fahrrad, Fitness und Sauna wollt - und ich komme dort vorbei, dann helfe ich kurz mit. Verstanden?"
"Mh - ja."
"Das ist wie in der Schule, wenn der Mensch, der neben euch sitzt in dem Test, den ihr gerade schreiben müsst, einfach nicht klar kommt. Dann legt ihr vielleicht eurer Blatt so hin, dass er*sie lesen könnte, was ihr schreibt, wenn er*sie das möchte. Das ist solidarisch. Unsolidarisch wäre, wenn ihr euch extra abwendet, so dass absolut gar keine Chance besteht, dass er*sie etwas sieht und am Ende dann den Test nicht besteht und ihr euch vielleicht noch ein bisschen darüber freut, weil ihr eine bessere Note habt. Das ist dann Konkurrenz - das Gegenteil von Solidarität."

Lachen, schmunzeln, grinsen.

"Das hat jetzt noch nicht unmittelbar was mit Gewerkschaft zu tun, aber doch auch ein bisschen. Weil - bei denen geht es darum, dass die Beschäftigten sich nicht gegenseitig ausspielen, sondern sich unterstützen, so dass es am Ende allen besser geht und alle mehr Geld haben, bessere Arbeitszeiten, einen schöneren Arbeitsplatz und nicht nur einige. Oder wie gestern in dem Planspiel - dem Gummibärchenspiel mit den Maoam - ihr erinnert euch bestimmt - dass diejenigen, die eine Arbeit haben, mit der sie Geld verdienen können, auch diejenigen, die gerade keine Arbeit haben, mit der sie Geld verdienen, unterstützen. Und diejenigen, die gerade keine Beschäftigung haben und ihr Geld durch ALG I oder II bekommen, die haben ja auch Rechte, denn die sind ja quasi bei der Arbeitsagentur angestellt und müssen für die arbeiten und die können auch in der Gewerkschaft Mitglied sein und die Gewerkschaft kümmert sich dann auch um deren Rechte.
Wenn sich alle zusammen tun, egal ob sie gerade angestellt sind oder nicht, gefällt das den Chef*innen nicht, da es für sie dann schwieriger ist, ihre Regeln durchzusetzen und ihr Geld auf dem Rücken der Beschäftigen zu machen. Denn die sind ja meistens nicht solidarisch mit den Beschäftigten. Und um den Zusammenhalt gut zu organisieren, gibt es Gewerkschaften, denn irgend jemand muss ja bei all den Beschäftigten und Betrieben den Laden zusammen halten, den Überblick behalten und alle zusammen bringen, so dass zusammen alle stark sind. Wer ist denn bei euch Klassensprecher*in?"
Hände gehen hoch.
"Ihr zwei?"
"Ja."
"Und gibt es bei euch eine*n Schulsprecher*in?"
"Ja."
"Und sie haben doch wahrscheinlich den Überblick über alle Klassen und wo es welche Probleme gibt? Sie geben die Informationen dann an euch beide weiter und ihr informiert eure Klasse und zusammen überlegt ihr, wie das Problem gelöst werden kann und wie ihr eure Interessen durchsetzen könnt?"
"Mh."
"So ähnlich ist das bei Gewerkschaften auch. Habt ihr schon mal ein Praktikum gemacht?"
"Ja."
"Und wer von euch hat die ganze Zeit Kisten im Supermarkt ausgepackt?"
Hände gehen hoch.
"Na, schon einige. Und wer hat richtig was gelernt und durfte mit anpacken und wurde gut behandelt und hatte Spaß?"
Hände gehen hoch.
"Wenige. Seht ihr, Gewerkschaften setzten sich dafür ein, dass so etwas nicht passiert. Manchmal klappt das nicht, weil die auch nicht überall sein können und sich die Azubis und die Beschäftigen auch selbst organisieren müssen, in die Gewerkschaft eintreten müssen, einen Betriebsrat gründen und eine JAV - eine Jugendauszubildendenvertretung. So wie ihr eure Klassensprecher*innen wählt. Und die müssen von den Beschäftigten unterstützt werden, weil die das alleine gar nicht alles schaffen. Gewerkschaft sind also auch alle, die da mitmachen, die Mitglied sind. Das ist wie in der Schule - die beiden bekommen ja auch nicht alles mit, also müsst ihr dafür Sorge tragen, dass sie von euch die wichtigen Informationen bekommen und dann müsst ihr auch mit ihnen zusammen kämpfen. Das ist dann wieder Solidarität."

Denkpause und Unruhe.

"So - wir haben genug geredet. Vielleicht kommen wir ja noch mal darauf zurück, denn wir werden ja viel über Arbeit in dieser Woche reden."
[...]

Freitag

Am Freitag arbeiten wir mit dem Konzept "Lernzirkel". Die Jugendlichen bekommen einen Laufzettel mit Pflicht- und Wahlstationen. Sie finden sich selbständig in Gruppen zusammen und entscheiden, wann sie zu welcher Station gehen. Die Pflichtstationen sind inhaltlicher Art, die Wahlstationen zum Chillen und Spaß haben.

Die Pflichtstationen umfassen Rechte und Pflichten in der Ausbildung; Interessengegensatz - Was machen eigentlich Gewerkschaften?; Konkurrenz und Solidarität; Bildungs- und Ausbildungswege sowie das Aufzeigen von Alternativen. Die angerissenen Aspekte von Montag und Dienstag und Fragen, die im Laufe der Seminarwoche aufgetaucht sind, aber nur knapp behandelt werden konnten, werden vom Team vertieft und entlang der Perspektiven, die die Jugendlichen für sich nach der Schule entwickeln, behandelt. Die Auswahl und Umsetzung, die Materialwahl und Gewichtung bestimmen sich aus dem, was gewerkschaftliche Vorfeldarbeit ist. Die Jugendlichen werden nicht dazu animiert, in die Gewerkschaft einzutreten, aber sie hören von Rechten und Pflichten in der Ausbildung, JAV und Betriebsrat, was in einem Arbeitsvertrag stehen muss und wer sich dafür eingesetzt hat, dass es Urlaub und Tarife gibt; und welche DGB-Gewerkschaft für welches Berufsfeld zuständig ist. Sie erfahren und erleben das Prinzip Solidarität im Gegensatz zu Konkurrenz. Entlang ihrer Lebenswelt werden Aspekte in Beziehung zur Arbeit der Gewerkschaften gesetzt. Zugangsbedingungen und Reichtumsverteilung werden entlang von Klasse, Herkunft Geschlecht thematisiert. Schließlich stellen wir gewerkschaftlich erkämpfte Rechte für Beschäftigte dar und setzen sie in die ihnen vertrauten Kontexte.

Umsetzungsmöglichkeiten im Seminar

Die Vertiefung und Verdeutlichung der gewerkschaftlichen Zusammenhänge überlasse ich nicht dem situativen Zufall in den Seminaren. Vielmehr arbeite ich gezielt mit verschiedenen Bausteinen und Übungen, die Teamende nutzen können, um auf die Aspekte Gewerkschaft, JAV, Solidarität und Organisierung einzugehen:
- multimediales Bildungsmaterial "Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt..." (Multitude e.V.)
- Gewerkschaften-Activity (DGB Jugend Berlin-Brandenburg)
- Planspiel "Gummibärchenspiel" (Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit)
- Lernzirkel mit Übungen zu Solidarität, Rechte und Pflichten in der Ausbildung, Bildungswege, Aufgaben von Gewerkschaften (Zukunftscamps, DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin)
- Reflexion über Konflikte in Praktika, Ausbildung, Schulkonferenzen und Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten mittels Forumtheater (Theater der Unterdrückten, Augosto Boal), Rollenspielen, oder Planspiel "Zoff auf der Jubiläumsfeier" (DGB Gewerkschaften)

Teil II: Was ist das gewerkschaftliche in der Bildungsarbeit der DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin?

Warum ist der Bildungsort DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin von Relevanz für gewerkschaftliche Bildungs- und Organisierungsarbeit? Diese Frage zu stellen und sie vor allem auch regelmäßig zu stellen, ist sinnvoll. Ich muss meine Arbeit reflektieren und in den Kontext stellen, sie verorten, da die Unterschiede zu anderen Bildungseinrichtungen und -trägern sonst verschwimmen und unterzugehen drohen.

Anlass meiner konkreten Ausarbeitung zu diesem Thema ist allerdings weniger die Reflexion meiner Arbeit um ihrer selbst Willen, sondern die betriebswirtschaftlich und gewerkschaftlich-politisch aufgeworfene Frage: Warum soll der DGB eine DGB Jugendbildungsstätte im Bundesland Brandenburg, BRD, halten, wenn

1) dort keine Mitglieder gemacht werden?,
2) die Ausstattung nicht den zu erwartenden Standards von gewerkschaftlichen Bildungsstätten entspricht?,
3) der gewerkschaftliche Organisierungsgrad im Flächenland Brandenburg nicht besonders hoch oder relevant ist?,
4) die Mitgliedsgewerkschaften des DGB in ihre eigenen Häuser oder als in schöner beschriebene gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen fahren?,
5) das Haus in einem baulich miserablen Zustand ist?,
6) kein Geld damit verdient werden kann?;
7) das ganze Projekt "gewerkschaftliche Bildungsarbeit" Geld kostet und sich eben nicht zu einem wirtschaftlichen Unternehmen transformieren lässt?,
8) es doch die Jugend- und Erwachsenenbildungsstätte Hattingen gibt?,
9) doch wohl nicht ohne gute Gründe andere Bildungsstätten des DGB bereits geschlossen wurden?.

Diese Fragen haben ihre Berechtigung und ließen sich mit einem "Ja, warum braucht es die DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin eigentlich? All die Mühe lohnt sich nicht. Das brauchen wir nicht." beantworten. Es geht beim Erhalt der einzigen DGB Jugendbildungsstätte in den neuen Bundesländern der BRD jedoch nicht um die Frage der ökonomischen Rentabilität. Bildung, politische Bildung, gewerkschaftliche Bildung, ist vielmehr ein Beitrag zur Emanzipation und Organisierung jedes*r einzelnen potentiell Beschäftigen. Jugendliche, die in vergessenen ländlichen Regionen aufwachsen oder aus migrantisch-deutschen Familien kommen oder in ökonomisch armen Verhältnissen leben, werden oft keine beitragsstarken Gewerkschaftsmitglieder. Nicht weil sie nicht wollen würden, sondern weil unsere Gesellschaft eine Klassengesellschaft ist, die ihnen aufgrund ihres Klassenhintergrunds nur eine sehr beschränkte Auswahl an Möglichkeiten übrig lässt. Sie werden sich vielleicht aussuchen können, welche Beschäftigung sie zum Hungerlohn ausüben. Sie werden die Leiharbeiter*innen und Werkvertragsinhaber*innen sein, sie werden diejenigen sein, die die Gewerkschaften zukünftig organisieren müssen, falls sie dem neoliberalen Angriff auf alle Arbeit etwas entgegen setzen wollen. Denn der Dumpingangriff auf die Gesamtarbeit läuft über die Senkung des durchschnittlichen gesellschaftlichen Mindestlohns. Wollen die Gewerkschaften also für ihre Stammklientel, die Arbeiter*innen und Angestellten, mittel- und langfristig noch relevant bleiben, dann müssen sie auch diejenigen in ihre Kämpfe einbinden, die sich als Beitragszahler*innen vielleicht nicht lohnen. Sie „lohnen“ sich durch ihre strategische Bedeutung in der Lohnhierarchie.

Ich bin davon überzeugt, dass die DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin als gewerkschaftliche Jugendbildungsstätte unter anderem deswegen nicht geschlossen, sondern im Gegenteil, als solche ideell und finanziell gefördert und strukturell erhalten werden muss.

Ich meine, dass die in diesem Teil einleitend aufgeworfenen Fragen nicht den Kern und die Idee dieser DGB Jugendbildungsstätte treffen. Die Fragen gehen an der gewerkschaftlichen Idee von Bildungsarbeit und Vorfeldorganisierung, wie im ersten Teil praktisch beschrieben, vorbei. Die Debatte um die Bedeutung politischer Bildungsarbeit als Vorfeldarbeit sollte sich innerhalb der Gewerkschaften verallgemeinern und sich der Bedeutung der dort stattfindenden Politisierungs- und Ermächtigungsprozesse klarer werden. In die Irre führen in dieser Debatte betriebswirtschaftliche Verkürzungen und Entpolitisierungen. Die Gewerkschaften haben keine Perspektive als Servicebetriebe, die den zahlenden Mitgliedern für ihre Beiträge äquivalent Dienstleistungen zurückliefern. Sie hatten und haben ihren Zweck als Organisationen, die Solidarität in Arbeitskämpfen organisieren und dafür sorgen, dass diejenigen, die Geld übrig haben, damit Strukturen finanzieren, die andere ermächtigen zum Mitkämpfen, denen Geld und Ressourcen fehlen, solange kapitalistische Verhältnisse die Organisation der gesellschaftlichen Produktion bestimmen.

Neben dieser gewerkschaftlichen Grundausrichtung auf die Auseinandersetzungen um bessere Arbeitsbedingungen für alle und auf allen Ebenen spielen Gewerkschaften meines Erachtens auch als antifaschistische Organisationen eine wichtig Rolle in einer Region, in der Neofaschismus nach wie vor ein Problem darstellt. Aber auch vor dem Hintergrund der im Verlauf der europäischen Krise derzeit erstarkenden neofaschistischen Tendenzen können Gewerkschaften wirkungsvoll gegenhalten: Wenn sie nicht auf die Sicherung nationaler Pfründe für gut organisierte Kernbelegschaften setzen, sondern sich allen der Lohnarbeit Unterworfenen unabhängig von zugeschriebenen Unterschiedlichkeiten als Arbeitenden zuwenden, sie für gemeinsame Kämpfe sensibilisieren und Organisationshilfe bieten.

Gemeinsamkeit statt Zersplitterung entsteht, wenn auch allgemeinere gesellschaftspolitisch relevante Themen gemeinsam diskutiert werden und in den Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um bessere Arbeit gestellt werden. So werden neben dem Thema Arbeit Themen wie NS-Geschichte, Globalisierung, Ökologie angeboten. Gewerkschaftliche Organisierung braucht ein solidarisches Miteinander. Dieses kann nur entlang der Themen Geschlecht, Klasse, Herkunft und weiterer „identitärer“ Zugänge erarbeitet werden, wenn das Miteinander Relevanz und Stabilität entwickeln soll: Wo haben wir unsere Gemeinsamkeiten, die uns stark machen? Wo haben wir unsere Unterschiedlichkeiten, an denen wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen dürfen?
An Orten wie der Bildungsstätte in Flecken Zechlin treffen Berliner und Brandenburger Jugendliche, Schüler*innen und Azubis, Gewerkschaftsmitglieder und Nicht-Mitglieder, Multiplikator*innen und Zielgruppen dieser aufeinander. Diese Begegnungen ermöglichen nicht nur den Blick über den Tellerrand, sondern auch die unmittelbare Auseinandersetzung mit sonst einander jeweils verschlossenen Lebenswelten.

Jugendliche aus Berlin und Brandenburg, zu einem sehr großen Teil aus ökonomischen schwierigen bis armen Verhältnissen von Gesamt-, Real-, Hauptschulen, Sekundar- und Oberschulen kommen zu Seminaren. Sie erleben einen Ort, der für sie geschaffen wurde und der von ihnen selbst gestaltet werden kann. Sie können sich entfalten, solidarisches Miteinander erfahren. Sie hören in der Regel zum ersten Mal von Gewerkschaften: Wozu diese da sind, was sie machen und an welchen Stellen sie für sie in ihrem Leben nützlich sein können. Sie lernen Menschen kennen, die sich gewerkschaftlich organisieren. Als Vorfeldarbeit ist dieser Zugang unersetzlich. Gerade dort, wo Gewerkschaften keinen Zugang haben, kann die DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin mit ihrer außerschulischen Jugendbildungsarbeit ansetzen und tut dies auch. Viele der Jugendlichen, die wir in den Seminaren treffen, werden schwerlich einen Ausbildungsplatz bekommen, geschweige denn studieren. Diejenigen, die eine Lehre anfangen können, finden sich in Betrieben wieder, in denen keine der Mitgliedsgewerkschaften oder der DGB selbst nicht einmal am Eingang vorbei gefahren sind. Es gibt keine Betriebsräte, keine Jugendauszubildendenvertretungen (JAV'n).

Jugendliche wachsen in Lebenszusammenhängen auf, in denen es normal ist, von Transfereinkommen, Leiharbeitsverhältnissen, Beschäftigungsmaßnahmen, zwei nebeneinander her laufenden befristeten unterbezahlten Jobs zu leben. Sie wissen gar nicht und können es auch kaum begreifen, dass es Arbeitsverträge gibt, die Normalarbeitsverhältnisse vorsehen bzw. was „Normalarbeitsverhältnis“ überhaupt heißt, wenn nicht das, was sie eben kennen. Das liegt nicht in erster Linie daran, dass klassische Normalarbeitsverhältnisse immer seltener werden, sondern daran, dass sie von diesen auf Grund der ihnen gesellschaftlich auferlegten Zuschreibungen hinsichtlich ihrer Klasse, Herkunft, ihres Geschlechtes ausgeschlossen sind und bleiben.

In der DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin können wir exakt an dieser Stelle ansetzen. Wir können den Jugendlichen nicht nur theoretisch erzählen, dass ihre Situation nicht schuldhaft individuell selbst verursacht ist und was gewerkschaftliche Organisierung und solidarische Praxis gegen solche Verhältnisse bewirken können. Wir können es ihnen - und sei es nur für wenige, dafür intensive Tage - auch vorleben und mit ihnen zusammen für sie erlebbar machen. Für einige ist es nicht nur das erste Mal, dass sie von all dem hören, dass sie das erfahren, sondern mitunter auch das einzige Mal. Jedes Seminar wirkt in diesem Sinne persönlichkeitsprägend und schreibt sich als Erlebnis tief in den Erfahrungsschatz ein. Nicht alle werden engagierte Gewerkschaftsmitglieder, die wenigsten werden ein Einkommen haben, das in der Gesamtheit der Mitgliedsbeiträge eine Relevanz hat. Aber im Hinblick auf die Schaffung der Bedingungen für die Ausbildung, Reproduktion und Verbreiterung solidarischer Verhältnisse sehe ich Bildungsarbeit mit dieser Zielgruppe als unerlässlich - und als originär gewerkschaftlich an. Es braucht also auch gerade diese Jugendbildungsstätte als gewerkschaftliche Bildungsstätte des DGB, um

1) dieses schwierige Organisierungsfeld bearbeiten zu können,
2) um Vorfeldarbeit in dieser Qualität realisieren zu können,
3) um als Gewerkschaft in einer Region und einem Feld präsent zu bleiben und gesellschaftspolitisch eine antifaschistische antirassistische Perspektive zu eröffnen.

An dieser Stelle komme ich auf Grundlage der Reflexion meiner Bildungsarbeit zu dem Schluss, dass es gewerkschaftspolitisch nicht nur einfach ein Einschnitt, sondern vielmehr qualitativ ein Einbruch und ein massiver Rückschritt wäre, das Haus als Gewerkschaftshaus aufzugeben.
Teil III: Chancen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten

Arbeit als originäres Thema von Gewerkschaften

Eines meiner Arbeitsfelder bilden Seminare zur Berufsorientierung und zur Eröffnung von Perspektiven für die Zeit nach der Schule. Bestandteile des Seminars sind die kritische Betrachtung des Arbeitsmarktes, Sensibilisierung für Armuts- und Reichtumsverteilung, Bewerbungstraining, Zugänge zu Bildungswegen und zum Arbeitsmarkt sowie Utopieentwicklung, Erfahrungen mit gelebter Solidarität und gegenseitiger Wertschätzung jedes*r Einzelnen und untereinander und schließlich der Austausch konkreter Erfahrungen aus dem Erwerbsleben.

Seminare zur kritischen Berufsorientierung, zum Thema Arbeit und zur gesellschaftspolitischen Bedeutung von Berufswahl aus Gewerkschaftsperspektive sind stark nachgefragt und die DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin ist mit dieser Schwerpunktsetzung die einzige Seminaranbieterin in dem Feld. Die Konkurrenz ist groß und die Herangehensweise im Haus durchaus nicht immer einfach zu vermitteln. Gerade aber weil das Haus eine gewerkschaftliche Bildungsstätte ist, sollte es dafür Sorge tragen wirklich gute Seminare zum Thema Arbeit zu machen. Die Entwicklung der letzten Jahre hinsichtlich der Zusammenarbeit mit den Schulen, Konzipierung von Seminarmaterialien, -bausteinen, Weiterführung von Bewerbungstrainings zur Betrachtung von Arbeit mit einer gewerkschaftlichen Rahmung stellen ein Alleinstellungsmerkmal in der Bildungsstättenlandschaft Berlin-Brandenburg dar. Diese Themensetzung und -besetzung aus gewerkschaftlicher Perspektive ist ein wesentlicher Bestandteil von Vorfeldarbeit und perspektivischer Chance auf Organisierung in den Feldern prekärer Beschäftigung. Mehr Gewerkschaft in Berufsorientierung, Bewerbungstraining und Perspektiven nach der Schule ist im Rahmen der außerschulischen Bildungsarbeit kaum zu machen.

Das prägt nicht nur die Sicht der Jugendlichen, sondern auch die der Lehrkräfte, die diese Seminare begleiten, mit organisieren, sich dafür engagieren, dass diese stattfinden und bewusst in die DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin kommen. Damit ist ein weiteres Betätigungsfeld eröffnet, wenn auch noch lange nicht ausgefüllt: Beschäftigte in Schulen mit Gewerkschaft in Berührung zu bringen. Vor dem Hintergrund der massiven Veränderung von Arbeitsbedingungen und der schwierigen Ausgangsbedingungen für gewerkschaftliche Organisierung in Gegenden wie dem Land Brandenburg stellt das einen beachtenswerten Erfolg der kontinuierlichen gewerkschaftlichen Bildungsarbeit in der Region dar.

Schulkooperationen für gewerkschaftliche Organisierung

Die seit 20 Jahren laufende Arbeit mit der Zielgruppe Schüler*innen aus Berliner und Brandenburger Schulen bringt stabile Schulkooperationen mit sich. Die langjährige Zusammenarbeit mit Lehrkräften an allgemein- und berufsbildenden Schulen verschafft dem DGB einen Zugang zu diesen Schulen. Indirekt kann hier gewerkschaftliche Organisierung stattfinden. Die Lehrkräfte kommen bewusst in die DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin. Schüler*innen, die an den Seminaren in einem lebendigen Gewerkschaftshaus teilnehmen, machen gute Erfahrungen und reden darüber. So vermittelt sich Gewerkschaft als etwas Konkretes Unmittelbares Wirksames an die Lehrkräfte und Mitschüler*innen. Durch das Zusammenwirken verschiedener Schul- und Berufsschulprojekte der DGB Jugend Berlin-Brandenburg und der DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin ist Gewerkschaft in Bildungseinrichtungen in Brandenburg und Berlin präsent. Insbesondere für das Land Brandenburg, in dem der gewerkschaftliche Organisierungsgrad nicht besonders hoch ist, bedeutet dies einen Zugang, dessen Möglichkeiten bisher seitens des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften noch lange nicht ausgeschöpft sind. Als Bildungseinrichtung des DGB bildet die DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin hierbei eine Schnittstelle.

Schneeballeffekte: Solidarität zwischen Schüler*innen, Azubis, Arbeitssuchenden und Beschäftigten

Die DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin ist in der Region verankert. Neben der Arbeit im Haus gibt es mehrere Sozialarbeiter*innen, die in der Region tätig sind. Sie bringen die Jugendlichen aus den Jugendclubs ins Haus und eröffnen einen Raum der Selbstbestimmung und Entfaltungsmöglichkeiten. Hier treffen Jugendliche andere Jugendliche. Die klare antifaschistische antirassistische Ausrichtung strahlt aus und bestärkt diejenigen, die sich einer oft vorherrschenden rechten Jugendkultur nicht unterordnen möchten. Selbstverwaltete Jugendprojekte, wie das Mittendrin in Neuruppin oder Jugendeinrichtungen in Wittstock und Rheinsberg hängen in einem Unterstützungsnetzwerk zusammen. Der DGB und die DGB Jugend steht hier für eine Perspektive, die die Lebensqualität vieler maßgeblich verbessert und antifaschistische Kultur prägt.
Dies setzt sich fort im Rahmen von Jugengruppenleiter_innen-Schulungen (Juleica), Betriebsferienlagern und kulturpolitischen Angeboten.

Gewerkschaftsjugend, Gremienarbeit

Die Azubigruppen fahren in das Haus ihres Dachverbandes und können Menschen anderer Mitgliedsgewerkschaften treffen. Das eröffnet der Gewerkschaftsjugend die Möglichkeit, sich gegenseitig zu bereichern, auszutauschen und gemeinsam solidarische Politik zu entwickeln.

Bereits gewerkschaftlich organisierte Jugendliche, in JAVn und/oder als Azubis, kommen in die DGB Jugendbildungsstätte. Hier können sie vorleben, was Gewerkschaft für junge Menschen bedeutet, wie die Institution mit Leben gefüllt wird, wozu sie konkret gut ist. Optimal sind also Überschneidungen von Schüler*innen-gruppen, Begrüßungsfahrten mit den Azubis im ersten Lehrjahr und JAV Schulungsseminaren.

Bildungsurlaub: Gewerkschaftlich erkämpftes und (wieder) umkämpftes Feld

Die Geschichte von Bildungsurlaub, einer erkämpften Errungenschaft von Gewerkschaften, ist verbunden mit (dem Aufbau und Erhalt von) Orten, an denen sich Bildung und Urlaub auch verbinden können. Bildungsurlaub bietet die Möglichkeit, mit Abstand von Alltag und Arbeitsalltag zusammen mit anderen interessante Themen zu bearbeiten. Gewerkschaften haben Bildungsstätten aufgebaut, um Beschäftigten an Orten, die für sie nicht bezahlbar wären, solche Räume zu eröffnen, um sich dort unter anderem mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen auseinanderzusetzen, die Rolle von Gewerkschaften zu beleuchten, sich darin zu verorten. Organisierungs- und Bildungsaspekte kommen also dort hinzu, wo andere Leute Urlaub machen. Die DGB Jugendbildungsstätte ist genau solch ein Ort.
Die Errungenschaft solcher Orte sollte nicht aufgegeben, sondern im Gegenteil bewusst gefördert und gestärkt werden.

Endnoten

1 Franziska Frielinghaus "Bildung" 2013 auf bildungsoffensive.net
2 Antragsbegründung zum Erhalt der DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin vom DGB-Bezirksjugendausschusses Berlin-Brandenburg an die DGB Bundesjugendkonferenz 2013.

Franziska Frielinghaus ist Jugendbildungsreferentin in der DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin